Sowjetische Besatzung: der Anfang vom Ende
Vor 30 Jahren begann der sowjetische Truppenabzug aus Ostdeutschland – 45 Jahre, nachdem sowjetische Truppen das nationalsozialistische Regime in die Knie gezwungen und große Teile Ostdeutschlands besetzt hatten. Was folgte, war fast ein halbes Jahrhundert sowjetische Besatzung in Ostdeutschland, institutionalisiert durch den Stationierungsvertrag mit der DDR 1957.
550 000 Soldaten standen permanent in Waffen in der ehemaligen Ostzone. Hinzu kamen Zigtausende Zivilangestellte und Zivilisten. Allein in Dresden waren rund 15 000 Militärangehörige stationiert, weitere 20 000 in Garnisonen rings herum. Ab 1991 hieß es in der Elbestadt, binnen nur zweier Jahre Abschied zu nehmen. Anfang 1993 waren sämtliche Truppen bis auf die Kommandantur aus Dresden abgezogen. Doch wann reden wir eigentlich über diese Jahre und Jahrzehnte unter und mit der Besatzung und ihre Folgen, die bis heute wirken? Über Glasnost und Perestroika Michail Gorbatschows, die das Ende des maroden Sowjetsystems besiegelten und so den Grundstein sowohl für die friedliche Revolution 1989 in der DDR als auch für das Ende der sowjetischen Vormachtstellung in Osteuropa legten? Und auch über das deutsch-russische Verhältnis, das heute vor allem auch deshalb so belastet ist, weil weder in Russland noch in Deutschland diese lange Epoche einem konstruktiv-aufklärerischen Diskurs zugeführt wurde, geschweige denn, dass man gemeinsam darüber ins Gespräch gekommen wäre.
Junge Erwachsene aus Dresden, St. Petersburg und Saratow haben genau das heute in Dresden getan. Im Rahmen eines mehrtägigen deutsch-russischen Jugendaustauschs des Politischen Jugendrings Dresden e.V. nahmen junge Menschen unter 27 Jahren an einer Online-Konferenz teil. Zum Thema „Sowjetische Besatzungsjahre in Dresden und Ostdeutschland“ sprach auf Einladung des Jugendrings meine Freundin Jane Jannke. Und ich kenne ja die Jane recht gut. Insbesondere die Jugend für eine intensive Auseinandersetzung mit dieser sowohl für junge Russ*innen als auch junge Deutsche, aber auch junge Menschen in all den anderen postsowjetischen Staaten so fern scheinenden und doch gar nicht so weit zurückliegenden Epoche zu begeistern war und ist ihr ein Herzensanliegen.
Dass es auch bitter nötig ist, zeigte sich recht schnell. Wie sich herausstellte, erhielten die jungen Teilnehmer*innen zum ersten Mal überhaupt Einblicke in Ereignisse aus einer Zeit, in der sie noch nicht einmal geboren waren. Im Schulunterricht waren das Wesen und die Folgen der oft leidvollen Besatzungsjahre für Deutsche und Sowjets in beiden Staaten nie Thema. Und des Leides gab es viel – auch unter sowjetischen Soldaten. Keiner weiß darum besser als ich, denn nicht wenige fanden in meiner Erde ewigen Frieden nach oft monate- oder jahrelangem Martyrium, das ihr Dasein als Rechtlose in einer totalitären Institution und Bürger einer auf totale Unterordnung unter die alles überstrahlende Ideologie getrimmten politischen Ordnung mit sich brachte. Trotz der dürftigen Dokumentationslage (die meisten Archivmaterialien aus den Besatzungsjahren sind im russischen Militärarchiv in Podolsk nach wie vor unter Verschluss) ließen sich zwischenzeitlich auch für meine toten Sowjetsoldaten zahlreiche Fälle ermitteln, in denen Menschen nach offizieller Lesart Suizid begingen, durch Schuss- oder Stichverletzungen oder Schädelfrakturen starben, ohne dass wie meist im Falle natürlicher Todesursachen üblich nähere Details zum Hintergrund der Verletzung angegeben wurden. So wie der Fall des 24-jährigen Sergeanten Sergej Timoschenko aus Rogoschinzy bei Poltawa (Ukraine), der 1947 in Dresden durch einen Schuss aus einer Kalaschnikow starb – auf seinem Grabstein wurde kein Todesdatum vermerkt. Erst die Archivrecherche brachte dahingehend den 25. Juli 1947 und auch die Todesursache ans Licht. Oder der Fall des erst 18-jährigen ukrainischen Soldaten Nikolai Tschernobai, der im Kampf um die Eroberung Dresdens mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden war. Er kam am 11. Juni 1945 mit einer frischen Schussverletzung im Beckenbereich ins Lazarett – und starb fünf Tage später. Auf seinem Grabstein und auch in der offiziellen Bestattungsliste wurde sein Name bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Es sollte vielleicht erwähnt werden, dass in der Dresdner Garnison im Juni und Juli 1945 auffällig viele Ukrainer, Nichtrussen, aber auch Repatrianten (Rückkehrer aus Kriegsgefangenschaft) ein ähnliches Schicksal ereilte. Mehr noch tranken sich offiziell zu Tode.
Wieder andere überlebten ihren Dienst, blieben aber zeit ihres Lebens traumatisiert durch erlittene physische und psychische Gewalt, Einsamkeit, Abschottung und ein archaisches Bild von Männlichkeit, dem sie nicht gerecht zu werden vermochten. Wer in der Sowjetarmee Schwäche zeigte oder nicht dem vorrangig russisch geprägten Sowjetideal entsprach, nahm unweigerlich die Opferrolle ein.
Als die Truppen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion binnen nur drei Jahren und acht Monaten aus dem wiedervereinten Deutschland abziehen mussten, kam das für viele Militärs einer Demütigung, einer Degradierung gleich. Dieses Mal ereilte das Trauma vor allem die Offiziersdienstgrade. Diejenigen, die zuvor die Befehle gaben, Rekruten für sich arbeiten ließen oder schikanierten, waren nun selbst zu Opfern geworden. Tausende standen nach der Rückkehr in die Heimat ohne Wohnung, Arbeit und Auskommen da, wurden zu Sozialfällen oder Alkoholikern. Gerade unter ehemaligen Offizieren schoss in den 90er-Jahren die Selbstmordrate drastisch in die Höhe.
Wie sich diese Zeit des Zusammenbruchs, des „Rauswurfs“ aus Deutschland, der Schwäche auf sowjetisch/russischer Seite auf das heutige Verhältnis zwischen Deutschland und insbesondere Russland als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion auswirkte – auch das war eine von vielen Fragen, die die junge Hörerschaft bewegte. Vor allem die russische. Und ich finde: Es wird Zeit, dass wir über all diese Fragen sprechen! 30 Jahre lang wurde dies auf allen Seiten versäumt – das muss ein Ende haben! Mehr als 2300 junge Menschen liegen in meiner Erde, nur wenige Hundert davon infolge direkter Kampfhandlungen! Wie sind sie dort hingekommen? Warum sprechen wir nicht also längst? Vielleicht auch ein wenig deshalb, weil man auf deutscher Seite fürchtet, dass ein kritischer Diskurs zur erfolgten deutschen Konsolidierung auch unangenehme Fragen dahingehend aufwerfen könnte, WIE diese Konsolidierung vonstatten ging. Man fürchtet das nationale Heiligtum der Wiedervereinigung könne dadurch hässliche Kratzer bekommen. Und das, obwohl die Hauptprotagonisten der Einheit auf deutscher Seite längst tot sind. Vielleicht aber auch, weil Russlands charismatisch-autoritärer Herrscher sich nach wie vor scheut, eines der demütigsten, unrühmlichsten Kapitel der Geschichte seines Landes zu beleuchten und zur Debatte freizugeben. Putins Russland hat ein starkes, mächtiges Russland zu sein. Schwache Momente und Zeiten des Niederganges stören dieses Bild nur und erinnern den Regenten zudem an eine schwarze Ära auch in seinem eigenen Leben.